Schreckgespenst trageerschöpfung
Wenn man das Wort „Trageerschöpfung“ in Google eingibt, erhält man in 0,48 Sekunden rund 29.000 deutschsprachige Ergebnisse. Auf Facebook gibt es zu dem Thema eine Gruppe mit über 7.000 Mitgliedern. Die Trageerschöpfung beim Pferd ist seit Jahren ein Dauerbrenner, auf jeden Fall ein emotionales Schlagwort und für viele Grund genug, die Augen zu verdrehen und mit „Pah Modediagnose“, das Weite zu suchen.
- Sind tatsächlich plötzlich alle Pferde trageerschöpft?
- Oder hat sich einfach unser Blick geändert und unser Wissen erweitert?
- Reiten bzw. trainieren wir falsch?
- Hat sich die Pferdezucht so stark verändert?
Ich würde sagen, die Wahrheit liegt in der Mitte. Ja – ich sehe tatsächlich häufig Pferde, die beginnend oder stark trageerschöpft sind, ja – unser Blick und unser Wissen hat sich zum Positiven verändert und wir verstehen, welche Auswirkungen dieses Haltungsmuster haben kann – und ja – die Zucht zu mehr Beweglichkeit und Spektakel, verzeiht weniger Trainingsfehler und falsche, repetierende Bewegungsmuster.
Gab es früher noch maximal die Auswahl ob man Englisch- oder Westernreiter sein möchte, kann man heute aus einer Vielzahl an Bezeichnungen, Methoden und Techniken mit teils haarsträubenden Umsetzungen wählen – die allesamt mit hochtrabendem Vokabular, gesunde, leistungsfähige Pferde versprechen. Viele davon scheitern im Endeffekt jedoch am Otto-Normal-Freizeitreiter, der an seinem Feierabend schlichtweg aus Zeit- und Muße-Mangel das Konzept nicht 100% umsetzen kann und will und so anfängt, einfach irgendwie oder gar nichts mehr aufbauend zu trainieren.
Und was „Lancer“ von 1990 noch problemlos über Jahre weggesteckt hat, quittiert „Steife Donnerbrise“ aus 2024, mit Lahmheit und einem Fesselträgerschaden in den nächsten drei Monaten, vom dem er sich nie mehr richtig erholen wird.
Das soll nicht heißen, das früher alles besser war – die Unsicherheit im Pferdetraining war jedoch definitiv geringer, der Druck ein tolles Reitpferd zu haben, durch Social Media und Co. nicht vorhanden und der Weg der Ausbildung, gefühlt auch für den „einfachen Freizeitreiter“, klarer und leichter umzusetzen. Dazu eben Pferde, die stabiler gebaut waren.
Um ein häufiges Missverständnis aufzuklären: Eine „Trageerschöpfung“ hat nichts mit dem „Tragen eines Reiters“ zu tun, sondern bezieht sich auf die Fähigkeit des Pferdes, seinen Rumpf – der wie ein Schiffsbug zwischen den Schulterblättern durch Muskeln und Bänder aufgehängt ist – zu „tragen“ und nicht einfach absinken bzw. festhängen zu lassen. Daher wird sie auch als „Rumpftrageschwäche“ bezeichnet, was wie ich finde, eher den Kern der Sache trifft. Das trageerschöpfte Pferd kann also auch durchaus ein Pferd sein, welches noch nicht einmal angeritten ist bzw. nicht (mehr) geritten wird, wie z.B. kleine Ponies, trächtige Stuten oder Pensionspferde.
Im Endeffekt ist es eine Bezeichnung, für ein bestimmtes Körperbild bzw. Haltungsmuster beim Pferd, das auf eine falsche – im Sinne von verschleissreiche und kompensatorische – Nutzung seines Körpers hindeutet. Wer das langfristig ignoriert, der könnte bald Besuch von den kleinen Geschwistern der Trageerschöpfung bekommen. Sie heißen beispielsweise: Sehnenschaden, Fesselträgerschaden, Kissing Spines oder Headshaking.
Und sie ergeben sich aus dem Fakt, dass gewisse Strukturen nun zuviel oder anders arbeiten müssen, um das Gewicht des federnden Rumpfes in der Bewegung aufzufangen. Dafür sind diese Strukturen nicht gemacht und das können sie auf Dauer nicht leisten. Sie verkrampfen, sie halten dauerhaft, sie büßen Elastizität ein und behindern ein energiesparendes Fortkommen.
Warum tun sie das?
Weil der eigentliche „Rumpftrageapparat“ (Muskeln, Sehnen, Bänder, Faszien – allen voran der Musculus serratus ventralis) ihrer Funktion nicht mehr oder zu wenig nachkommen – was man auch sehen kann, am Körper des Pferdes. So zeigt sich beispielsweise ein schlecht bemuskelter Widerrist und abgesackter Brustkorb, das Pferd wirkt oft wie ein überbauter, zweigeteilter Dackel mit kurzen, rückständigen Vorderbeinen und steilen Hinterbeinen. Oft liegt dann auf einmal auch der Sattel nicht mehr richtig, der Rücken hängt und der gefürchtete „Unterhals“ ist prominent zu sehen.
Und warum verflixt, kommen die Rumpfträger ihrer Arbeit nicht mehr korrekt nach?
Hier gibt es eine unfassbar große Menge an Gründen, die den Anstoss für eine kompensatorische Haltung geben können bzw. diese aufrecht erhalten: Schmerzen und Krankheit in verschiedener Form, angezüchtete Hypermobilität, Überforderung im Training und damit einhergehend Schutzspannung bzw. Kompensation durch andere Muskeln, Hufstellung, Zahnprobleme, ungünstiges Gebäude von Haus aus, unphysiologische Fresshaltung, Stress und dauerhafte Körperhaltung/Anspannung im Fluchtmodus, unpassende Ausrüstung, Alter… Die „Trageerschöpfung“ ist also eigentlich ein Übergriff für ein komplexes Thema mit mannigfaltigen Ausprägungen und Gründen.
Müssen wir jetzt sofort in Panik verfallen, wenn uns von einer fachlich kompetenten Person gesagt wird, unser Pferd hat Anzeichen einer Trageerschöpfung oder es uns gar selber auffällt?
Nein, natürlich nicht. Wir sollten uns jedoch bewusst sein, dass unser Pferd in ein kompensatorischen Haltungsmuster geraten ist, welches wenn es unverändert bleibt, unliebsame Konsequenzen nach sich ziehen wird. Schneller, wenn wir regelmäßig Leistung von unserem Pferd einfordern und seinen Körper belasten und vermutlich etwas langsamer, wenn unser Pferd ein Leben als „Paddock-Ornament“ führt. Also ist generell Veränderung notwendig!
Veränderung startet mit Bewusstwerdung. Danach können wir beginnen, aktiv an einer Verbesserung zu arbeiten. Das bedeutet nicht, alles bisherige über Board zu werfen. Nach der Bewusstwerdung kommt die Ursachenidentifizierung und anschließend ein langfristiger Plan, der sowohl lösende als auch stabilisierende Elemente enthalten sollte – am besten zuerst vom Boden und erst später, auch unter dem Reiter.
Unterstützend dazu, sollten die verspannten Strukturen gelöst und damit in die Lage gebracht werden, die neuen Bewegungsimpulse auch umsetzen zu können. Aufbauendes Training und manuelles Lösen muss Hand in Hand gehen – keinem Pferd kann man die Trageerschöpfung „wegmassieren“.
Geduld ist gefragt, denn die Trageerschöpfung ist nicht an einem Tag, nicht in einer Woche entstanden und deshalb dauert es auch, sie wieder im Körper zu „entflechten“ und diesen in ein stabiles, tragfähiges Bewegungsmuster zurück zu bringen und langfristig zu erhalten. Gerne unterstütze ich euch dabei.
Titelbild: wenn aus „Klein aber Oho“, ein „Klein aber Oh no“ wird. Auch ungerittene Pferde können an einer Trageerschöpfung und ihren Folgen leiden.